Poesie und Prosa
von Carlo Michelstaedter
[Aus einem Notizheft]
Juni-September 1905
Ein
in einem
religiösen Internat erzogener Jüngling wendet sich
aus Reaktion all jenem zu, von dem er weiss, dass es gegen
die menschlichen Gesetze rebelliert, und lässt sein
Hirn an Spekulationen über die menschliche Psyche und den
Mysterien der Natur heranreifen. Zu Vieles sieht er und in seinem
bitteren Gemüt versiegt die Quelle jeglichen Gefühls.
Er spürt es und empfindet Schmerz darob, so will er sich ins
Leben werfen um mit den stärksten Empfindungen die
paralysierten Fibern seiner Seele anzuregen. Er macht es. Doch er kann
nicht die verlorene Spontaneität wiedererlangen und wird sich
bewusst, dass all seine Enthusiasmen fiktiv sind, er wird sich bewusst
immer derselbe zu sein. Und mit gewohnter grausamer Ehrlichkeit gegen
sich selbst untersucht er sein Inneres, analysiert es; endlich, mit
ruhiger und räsonierter Entschlossenheit, bringt er sich um,
gibt der Muttererde die Energien zurück, die vergebens in ihm
kämpften.
[Onda per onda / Welle
auf Welle]
Onda per onda batte sullo scoglio
– passan le vele bianche all’orizzonte;
monta rimonta, or dolce or tempestosa
l’agitata marea senza riposo.
Ma onda e sole e vento e vele e scogli,
questa è la terra, quello l’orizzonte
del mar lontano, il mar senza confini.
Non è il libero mare senza sponde,
il mare dove l’onda non arriva,
il mare che da sé genera il vento,
manda la luce e in seno la riprende,
il mar che di sua vita mille vite
suscita e cresce in una sola vita.
Ahi, non c’è mare cui presso o lontano
varia sponda non gravi, e vario vento
non tolga dalla solitaria pace,
mare non è che non sia un dei mari.
Anche il mare è un deserto senza vita,
arido triste fermo affaticato.
Ed il giro dei giorni e delle lune,
il variar dei venti e delle coste,
il vario giogo sì lo lega e preme
– il mar che non è mare s’anche
è mare.
Ritrova il vento l’onda affaticata,
e la mia chiglia solca il vecchio solco.
E se fra il vento e il mare la mia mano
regge il timone e dirizza la vela,
non è più la mia mano che la mano
di quel vento e quell’onda che non posa...
Ché senza posa come batte l’onda
ché senza posa come vola il nembo,
sì la travaglia l’anima solitaria
a varcar nuove onde, e senza fine
nuovi confini sotto nuove stelle
fingere all’occhio fisso all’orizzonte,
dove per tramontar pur sorga il sole.
Al mio sole, al mio mar per queste strade
della terra o del mar mi volgo invano,
vana è la pena e vana la speranza,
tutta è la vita arida e deserta,
finché in un punto si raccolga in porto,
di sé stessa in un punto faccia fiamma.
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Welle
auf Welle schlägt an die Klippe
–
vorüber ziehen am Horizont die weissen
Segel
ohne Rast steigt
steigt an
mal
süß, mal stürmisch die bewegte Flut.
Doch Welle und
Sonne, Wind, Segel und Klippen,
diese ist die
Erde, jenes der Horizont
des fernen Meeres,
das Meer ohne Grenzen.
Nicht ist es das
freie Meer ohne Ufer,
das Meer, wohin
die Welle nicht gelangt,
das Meer, das aus
sich die Winde zeugt,
Licht aussendet
und wieder in den Schoße nimmt,
das Meer, das aus
seinem Leben tausende Leben
loslöst
und in nur einem Leben wächst.
Ah, es ist kein
Meer nah oder fern, welches
nicht belasteten
die vielen Ufer, die vielen Winde
nicht aus seinem
einsamen Frieden rissen,
Meer ist nicht das
nur eins unter Meeren ist.
Auch das Meer ist
eine Wüste ohne Leben,
trocken traurig
starr ermüdet.
Und der Tage und
der Monde Lauf,
der Winde und der
Küsten Wechsel,
dies Spiel es doch
drückt und fesselt
– das
Meer das nicht Meer ist auch wenns Meer ist.
Wieder trifft der
Wind auf die müde Welle,
und mein Kiel
durchfurcht das alte Kielwasser.
Und wenn meine
Hand zwischen Wind und Meer
das Ruder
führt und das Segel lenkt
ist meine Hand
nichts als die Hand
jenes Windes und
jener Welle die nicht ruht...
Wie ruhelos
schlägt doch die Welle,
und wie ruhelos
der Stürme Wolken wehen,
derart sie, die
einsame Seele plagt
durch neue Wellen
zu schreiten und endlos
neue Grenzen unter
neuen Sternen
das Auge
täuschen, das geheftet am Horizont
wo die Sonne sich
um wieder aufzugehen erhebt.
An meine Sonne, an
mein Meer, auf diesen Strassen
der Erde oder des
Meers, wende ich mich vergebens,
vergeblich alles
Leid und vergeblich die Hoffnung,
ist das ganze
Leben
nicht trocken und verlassen,
bis in einem Punkt
sichs sammelt im Hafen,
aus sich selbst in
einem Punkte aufflammt.
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Pirano, August 1910
Ognuno vede quanto l’altro falla
quando crede passar filo per cruna
pur spera ognuno d’infilar sua cruna
né perché più s’avveda
dell’inganno
meno ritenta ancora la fortuna.
Ché tale è la sua sorte:
col suo filo sperar vita tramare
e con la speme giungere alla morte.
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Ein Jeder sieht den
Andern scheitern
wenn er glaubt Faden durch Nadel zu ziehn
doch hofft jeder sein Nadelöhr einzufädeln
und nicht weil man den Trug bemerkte
versucht man weniger sein Glück
Denn dies ist sein Geschick:
mit dem Faden hoffend Leben zu stiften
und mit der Hoffnung einzulaufen in den Tod.
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[
Wozu Mädchen]
I
Wozu, Mädchen,
schaust du mich an mit den Lichtes vollen Augen,
mit den azurnen tiefen
Augen und im Gesicht steigt dir eine Flamme auf?
Keine Sonne hat meine
Jugend, es zählt die Jahre nicht mein Herz
meine gepeinigte Seele
kennt die Frühlinge nicht.
Mädchen, was
hältst du dich auf? wieso näherst du dich meinem
Herzen?
wieso, oh
Mädchen, ziehst du in dein junges Feuer mein Herz?
Mädchen, kalt
ist mein Herz, kalt ist mein Herz und fern,
es spürt nicht
den heissen Atem deines jungen Lebens.
II
Wenn an zarten Abenden,
im langen feurigen Mittag,
auf bleichen Gesichtern
schmeichelnd Amor Verlockungen flüstert,
und wenn der Mai die
Brust entfacht dem Manne, der lebt,
schweigt mein Herz, oh
Mädchen. –
Und wenn über
dunklen Ebenen bleiern der Himmel droht,
auflodert die
ribellische Flamme getragen vom Winde des Hasses,
des schmerzlichen Hasses
der besiegten Massen,
wenn brennt jedes junge
Herz und in der rauchigen Luft
verzweifelte Qualen
weint, und ertönt der höchste Schrei,
wenn entbrannt sich die
Bögen aller Leben spannen,
schweigt jenes, oh
Mädchen.
Und wenn die Mutter von
meiner heissen Wimper eine Träne fängt
und wenn der Tod mich
berührt, mein Herz krampfhaft drückt,
wenn warm die Augen
verfinstert das Blut der Vielen die ich geliebt
schweigt jenes noch
immer oh Mädchen.
Und wenn die Menge mich
auslacht oder wenn Lob mich erhebt,
und wenn die freche
Kraft der Jugend in mir sich regt,
schweigt oh
Mädchen mein Herz ein erhabenes unendliches Schweigen.
Ostern 1907
DIALOG: EIN KOMET – DIE ERDE
Erde: Da ist er ja wieder, der Vagabund!
Komet: –
Erde: Vorsicht, Herrgott! Pass’ doch auf, wohin du gehst!
Komet: Besser nicht aufpassen wohin man geht, als nur soweit gehen, bis
wohin man sieht.
Erde: Mag sein, aber... Nein Herrgott! Gib acht!
Komet: Besser nicht acht zu geben, als nur auf das warten, was niemals
kommt.
Erde: Meine Güte! Ausgerechnet mir! Jetzt zerschlägts
mich! Kanns noch Schlimmeres geben?!
Komet: Ja, die Planeten!
Erde: Halt mal, da wirst du in den Mars rammen – so was nennt
man angehm zerstreut sein!
Komet: Besser zerstreut, als angezogen und zurückgezogen und
verzogen.
Erde: Du jedenfalls wirst immer extravaganter und verworrener. Sag mal,
wann wirst du aufhören den Vagabunden zu spielen?!
Komet: Wenn du aufhörst Schlange zu stehen.
Erde: Es wäre höchste Zeit, sich zu entscheiden. Und
das sag ich zu deinem Wohl.
Komet: Mag sein, oder auch nur um friedlich schlafen zu
können, – alte Heuchlerin! Du und Mars und Venus ...
und wieviele ihr noch sein mögt, die ihr euch eure Orbits
zentimetergenau eingeteilt habt, um die Bahn bequem und sicher fahren
zu können und euch in heiligen Frieden zu betten und den Hof
zu machen...
Erde: Der Sonne, sicher...
Komet: Ja! Die Sonne. – Ihr macht alles im Namen der Sonne,
sogar die Nacht!
Erde: Tag oder Nacht, ich tue meine Pflicht; wenn ich die Nacht mache,
heisst es, dass ich solide bin, wenn ich eine geregelte Bahn habe,
heisst es, dass ich nicht exzentrisch bin: was ich zu tun habe, weiss
ich, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für
Jahr.
Komet: Was du weißt und machst wird doch nicht etwa nur
deiner alten Haut zugutekommen? Wem dienen denn deine Runden?
Erde: Keine Ahnung wem sie dienen, ich tue meine Pflicht und mehr
verlange ich nicht. – Du aber, sag mir doch mal, welchem
Zweck dein exorbitantes Leben dient, mit dem du bloß das
Leben der friedlichen und ehrlichen Bürger bedrohst und
beleidigst – zu welchem Zweck führst du jenes
Schwänzlein aus kleinen Vagabunden die du aufsammelst und
hinter dir herziehst, wenn nicht, um dir einen Heiligenschein zu geben.
Ha!
Komet: Wenn ichs nicht weiss – ich halte Kurs darauf es zu
wissen – solange bis ichs weiss – aber niemals
werde ich mich an einen konstituierten Stern lehnen und mich im Rechte
wähnen, meine Pflicht zu nennen, ohne mein eigenes Licht im
Lichte anderer zu leben. Während die, die du Vagabunden
nennst, wirklich solche werden, oder schlimmer – von euch
Bediente – solche – welche ihr seid. Ob jene, wie
du sagst mir einen Heiligenschein geben, weiss ich nicht –
und als solche können sie dir auch erscheinen, weil von mir
angeleuchtet, – doch ich – da ich die da nicht
kenne – suche also auch nicht diesen Heiligenschein, auch
wenn es dir so scheinen mag, und weder, jetzt pass auf, ziehe ich darum
diese an. Aber wieviele ich auch mit mir ziehen wollte, von meinem
Licht ernähren, auf meiner geraden Bahn, die dir und den
anderen reine Willkür scheint, – die ihr
euch auf der bequemen Bahn bewegt, das Licht anderer auf eure Trabanten
reflektiert, damit diese wiederum in eurer Nacht das Licht der Sonne
zurückwerfen – während ihr den Schatten
hinter euch streut. Und ...
Erde: Lamgsam! He! Herrgott, was machst du da? Neeeein!
Komet: Beruhige dich; ich berühr dich nicht – deine
Stunde ist noch nicht gekommen! Auf bald!
Erde: Wenn es so ist, hör mal, da du keine bösen
Absichten hegst ... Komet!... du weißt dass ich dich gern
habe ... könntest du wohl – immerhin
kostet’s dich ja auch nichts – ...auf ... begradige
mir doch dieses Achse!
Komet: Da sind sie, die Bourgeoises! Alle gleich! Ihr würdet
gerne aber könnt nicht – und wieso könnt
ihr nicht – das ist eure Pflicht! Aber wenn es dazu
kommt, dann ist euch jede Hilfe recht, – oder die Monate? und
die Jahre? und die Regel?
Erde: Das sind Worte, – das weißt du, und wenn ich
eine Stütze gehabt hätte... von jung auf... dann
hätte ich vielleicht auch... – Komm, tu mir diesen
Gefallen!
Komet:
Es ist
spät – ich muss mein Leben fortsezten
– du fahr nur fort deine Knochen an der Sonne zu
wärmen, zusammen mit den anderen Kadavern. Leb wohl
dochmia [altgr.
„Schiefe“], leb wohl „Planet“.
Erde: Leb wohl!
Mai 1910
Übersetzung: Adrian Giacomelli.
cor bedankt sich bei Adelphi Edizioni SPA Milano, insbesonders Barbara
Alesci, für die Abdruckgenehmigung und die freundliche
Unterstützung.